PARADOX DER EMANZIPATION

(1980 geschrieben als ich 28 war)

II.D Die soziale Struktur der AAO und die offene Hierarkie in der AAO

Für viele Außenstehende war es besonders überraschend, dass es in der AAO eine Hierarchie gab, da die meisten Menschen eine freie Gesellschaft als eine solche wahrnehmen.

Das Leben so vieler Menschen unter einem Dach muss zwangsläufig zu Problemen in Form von Konkurrenz und Konflikten führen, sofern die Beteiligten in ihrer psychischen Entwicklung nicht über dieses Phänomen hinaus sind. Und wenn sich zwei Personen darüber stritten, wer in einer bestimmten Frage Recht hatte, wie sollte dies entschieden werden (körperliche Gewalt war ausgeschlossen)?

Darüber hinaus erlebte jeder durch die Selbstdarstellung, dass sich jeder selbst und andere mit anderen verglich. Dies hatte unter anderem zur Folge, dass man sich für die Einführung einer offenen demokratischen Hierarchie durch eine allgemeine und offene Wahl entschied. Man wählte, wer seiner Meinung nach der Beste war. Das Ergebnis einer solchen Wahl bestimmte unter anderem, wer die Entscheidungsbefugnis erhielt und Verantwortung für die gemeinsamen wichtigen Angelegenheiten der Gruppe übernahm. Wir alle nahmen daher einen bestimmten Platz in dieser Hierarchie ein, und bei Streitigkeiten zwischen zwei Personen hatte derjenige „Recht“, der im Verhältnis zum anderen an der Spitze der Hierarchie stand.

An der Spitze der Hierarchie stand Otto Mühl (ca. 50 Jahre alt), der ursprünglich die Initiative zur Gründung der Gruppe ergriffen hatte. Auf ihn wurde projiziert, wie es normalerweise auf einen Anführer projiziert wird, von dem man abhängig ist. Ich und die meisten anderen hatten Angst vor ihm, fühlten uns aber gleichzeitig zu ihm hingezogen. Aus der Psychologie wissen wir, dass diese beiden Emotionen zu einer besonders starken Fixierung beitragen, und diese wurde durch Ottos Verhalten nur noch verstärkt. Er war ein erfahrener Therapeut, aber meiner Meinung nach war es leider eher Technik als Liebe.

In der Zeitschrift „Energie und Charakter“ charakterisierte ein bioenergetischer Therapeut, der den Friedrichshof besucht hatte, Otto als typisch masochistischen Charakter. Der masochistische Charakter ist nach der Bioenergetik durch einen fast chronisch angespannten Geisteszustand (insbesondere zwischen Lust und Schmerz) gekennzeichnet, aus dem er nur schwer wieder herauskommt. Er stellte außerdem fest, dass viele Mitglieder der AAO ebenfalls masochistische Charaktere waren.

Abgesehen von der Unmenschlichkeit, Menschen nach einem solchen Klassifizierungssystem zu bewerten und zu beurteilen, hatte dies etwas Besonderes. Meiner Meinung nach befanden sich die Organisation und die einzelnen Gruppen in einem Spannungszustand, der sich nie wirklich entspannte.

Die Hierarchie wurde in regelmäßigen Abständen durch demokratische Wahlen verändert. Doch die bloße Existenz einer Hierarchie behinderte die Entwicklung einer Liebe, die aus dem Herzen und nicht aus dem Ego kommt. Nicht-egoistische Kommunikation und Verhalten wurden behindert, solange Konkurrenzkampf und Hierarchie aufrechterhalten wurden.

Aus praktischen Gründen (30 Personen, verteilt auf zwei Stunden) konnte die zweistündige Selbstpräsentation des Abends nur auf wenige Gruppenmitglieder verteilt werden, und zudem war die Zeit, die man in der Mitte verbringen konnte, begrenzt. Allmählich setzte sich auch hier der Leistungsanspruch durch. Was in der Mitte geschah, musste unterhaltsam oder fesselnd sein. Wer mit dieser Entwicklung und den damit verbundenen Anforderungen nicht Schritt halten konnte, blieb daher meist Zuschauer der Selbstpräsentationen der „Besseren“.

Der Wettbewerb fand seinen stärksten Ausdruck in der gemeinsamen Selbstdarstellung, wo es für die Teilnehmer darum ging, die „besten“ emotionalen Ausdrucksformen zu zeigen. Der Ausdruck von Emotionen war nicht länger Selbstzweck, sondern wurde zu einem Mittel, um im Wettbewerb um einen höheren sozialen Status Punkte zu sammeln.

Diese gegenseitige Abhängigkeit zwischen Hierarchie, sozialem Status und Wettbewerb einerseits und der individuellen psychologischen Entwicklung und Selbstdarstellung andererseits funktionierte so, dass sie sich gegenseitig verstärkten. Die Hierarchie war aus der Erfahrung entstanden, dass manche bewusster entwickelt waren als andere, und die Hierarchie war eine praktische Maßnahme zur Lösung von Konflikten.

Wer in der Hierarchie aufsteigen und so in Entscheidungsprozesse einbezogen werden wollte, musste unter anderem etwas leisten: die Selbstdarstellung, das Forum, in dem jeder den eigenen psychologischen Entwicklungsstand beurteilen konnte. Dieser Weg bzw. diese Form war jedoch individuell und nicht kollektiv und daher natürlich auch mit der Angst verbunden, im Forum der Selbstdarstellung individuell Kritik am System zu üben, da dies höchstwahrscheinlich zu einem Abstieg in die Hierarchie geführt hätte.

Die dem System zugrunde liegenden Hypothesen und Annahmen wurden während meiner Zeit in den Gruppen weder hinterfragt noch kritisiert. Diejenigen, die die „Macht“ hatten, waren so geschützt, dass Kritik nur individuell und nicht kollektiv geäußert werden konnte. Da diese Kritik ein großes Risiko für den Einzelnen darstellte, blieb sie aus.

So beeinflusste die soziale Struktur (Wettbewerb und Hierarchie) das individuelle Verhaltensmuster in systemerhaltender Weise. Relativ schnell bildeten sich in der Gruppe mehr oder weniger ausgeprägte Normen heraus, die hauptsächlich von den Gruppenleitern bestimmt wurden. Aus den oben genannten Gründen war es mit Sanktionen seitens der Gruppe verbunden, wenn man über die Normen hinausging. Oft wurde Kritik am System selbst oder an den Gruppenleitern als unbewusste Projektion zurückgewiesen. Bevor ich jedoch weiter in die Diskussion einsteige, möchte ich das dritte wichtige Element dieses Experiments beschreiben: die freie Sexualität.

IIE Die gemeinsame freie Sexualität


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