PARADOX DER EMANZIPATION

(1980 geschrieben als ich 28 war)

II.A AAO und Selbsdarstellungsgruppen

II.A Historisch-theoretische allgemeine Einführung

Im Folgenden werde ich mich mit diesem Experiment einer alternativen Lebensweise befassen. Es ist sowohl psychologisch als auch soziologisch interessant, da es die Möglichkeit bietet, einige Hypothesen aus Psychologie und Soziologie zu überprüfen. Doch betrachten wir zunächst Hintergrund und Geschichte dieses Experiments.

Der Studenten- und Jugendaufstand hatte viele neue Gedanken und Ideen hervorgebracht, doch die Kritik richtete sich insbesondere gegen die bürgerliche Lebensweise. Das Motto der Hippies „Make Love, Not War“ richtete sich nicht nur gegen den Vietnamkrieg, sondern auch gegen die gewalttätige Psyche des Einzelnen. Es war nicht nur eine Kritik an der bürgerlichen Kernfamilie, deren systemanpassende Funktion und enge Verbindung mit der kapitalistischen Produktionsweise und Ideologie als etwas angesehen wurden, das ebenfalls verändert werden musste, wenn Hoffnung auf ein besseres Leben und eine bessere Gesellschaft bestehen sollte.

Die Kernfamilie, die auch als Konsumeinheit und als Ort der Reproduktion der Arbeitskraft fungierte, brachte durch ihre Struktur das ideologische Bewusstsein hervor, das der Kapitalismus benötigte. Für einige Kritiker der damaligen Zeit bestand eine der Lösungen bzw. der Weg in die Zukunft in der Auflösung dieser Kernfamilienstruktur und der Schaffung einer anderen Form des Zusammenlebens.

Kollektive Lebensformen gab es zwar schon vor dem Jugendaufstand, doch nun verbreiteten sie sich immer mehr. Viele Theoretiker der neuen Kollektivbewegung glaubten und hofften, dass das Kollektiv selbst eine neue Form psychischer Freiheit für den Einzelnen schaffen würde. Vor allem glaubten sie, dass es möglich sein würde, die psychischen und physischen Probleme, die durch das Zusammenleben von mehr als zwei Menschen unter einem Dach entstehen würden, durch einfaches Reden und Diskutieren zu lösen. Manche hofften sogar, dass die Individualität durch das Leben im Kollektiv eine Art Wiedergeburt erleben würde. Meiner Meinung nach war die größte Illusion der Glaube, die Psyche der Beteiligten sei gut genug und bedürfe keiner Veränderung, damit ein Kollektiv gut funktioniert. Oder anders gesagt: dass eine bestimmte Form der Psychotherapie, die über Gespräche und Diskussionen hinausging, nicht notwendig war.

Die in der Kernfamilie oft angewandte Sündenbockstrategie, bei der der schwächsten Person die Schuld für das psychische Leid der Familie gegeben wird, wiederholte sich, wenn auch maskierter, auch in den Kollektiven – das ist meine Erfahrung. Die Konflikte in den Kollektiven, die meist auf psychische Phänomene zurückzuführen sind, wurden so zu Symptomen und direkten Erklärungen für die mangelnde Funktionsfähigkeit des Kollektivs. Entweder sah die Mehrheit des Kollektivs den Charakter und das Verhalten einer einzelnen Person als Ursache für das Nichtfunktionieren des Kollektivs an, oder eine einzelne Person sah den Rest des Kollektivs als Ursache für dessen Nichtfunktionieren.

Und bevor es zu größeren psychischen Konflikten zwischen den Mitgliedern kam, entschieden sich meist eine oder mehrere Personen, das Kollektiv zu verlassen. Dies bedeutet nicht, dass alle Meinungsverschiedenheiten in Kollektiven auf die mangelnde psychologische Entwicklung einzelner zurückzuführen sind, doch viele der Probleme, die in Kollektiven auftraten und auftreten, werden nicht als das behandelt, was sie sind, nämlich das neurotische Verhalten einzelner.

Manche Menschen verstehen sich einfach nicht, ohne dass ich hier versuchen würde, das zu erklären oder zu beweisen. Und es gibt keinen Grund, zusammenzuleben und beiden Parteien unnötige Probleme zu bereiten. Dasselbe passiert in Beziehungen und Ehen, wo sich die Parteien im Laufe der Zeit in unterschiedliche Richtungen entwickeln können und die Interessen nicht mehr so übereinstimmen wie zu Beginn der Beziehung. Meines Wissens lebt die bereits erwähnte Illusion, dass beispielsweise das Zusammenleben von vier Menschen in einem gemeinsamen Zuhause die verkrüppelte Psyche der vier Personen von selbst lösen würde, in vielen Kollektiven weiter, wie der ständige Wechsel von Kollektiven beweist.

Aufgrund dieser Erfahrungen gründeten einige Österreicher um 1970 eine Gruppe oder ein Kollektiv mit dem Ziel, mit einer neuen Lebensweise zu experimentieren. Diese sollte unter anderem den bewussten Versuch beinhalten, das von der Kernfamilie und der bürgerlichen Gesellschaft hervorgebrachte neurotische Bewusstsein zu verändern, und zwar mithilfe von Psychotherapie.

Einige dieser Personen hatten bereits Erfahrungen mit der klassischen Psychoanalyse aus Wien, wo sie auch ihren Ursprung hatte. Andere hatten Reichs „Die Funktion des Orgasmus“ gelesen, und alle einigten sich darauf, sich gegenseitig nach Reichs Rezepten zu therapieren. Interne Konflikte, die sie zu diesem Zeitpunkt nicht lösen konnten, führten dazu, dass sich die Gruppe in zwei kleinere Gruppen spaltete.

Eine dritte, ähnliche therapeutische Gruppe wurde gegründet. Die drei Gruppen schlossen sich zusammen und kauften gemeinsam ein Stück Brachland in Österreich, etwa 30 km von der ungarischen Grenze entfernt. Die mehr oder weniger utopischen Ideen von Marx, Freud, Reich, dem Studenten- und Jugendaufstand und der Frauenbewegung sollten im Alltag dieses Kollektivs umgesetzt werden.

1973 beschloss man, einige dieser Ideen radikal in den Alltag zu integrieren. Da man glaubte, Privateigentum sei die Wurzel vieler Übel, wurden Gemeineigentum und eine gemeinsame Wirtschaft eingeführt. Alles Materielle wurde Gemeineigentum und unter den Mitgliedern aufgeteilt. Gemeinsame, freie Sexualität wurde so eingeführt, dass die Barrieren, die die sexuelle Beziehung eines Paares normalerweise von außen einschränken, nicht berücksichtigt wurden. Darüber hinaus wurde die Therapie in Form von Gruppentherapie und gegenseitiger Einzeltherapie gemeinschaftlich durchgeführt.

Nachdem die etwa 60 Personen einige Jahre lang Erfahrungen mit dieser Lebensweise gesammelt hatten, begannen einige von ihnen, durch Europa zu reisen und für ihre Lebensweise zu werben, in der Hoffnung, dass sich ihnen mehr Menschen anschließen würden. Immer mehr Menschen zogen nach Österreich, und andere gründeten anderswo in Europa neue Gruppen. 1977 war das Jahr, in dem das größte Interesse an diesen Gruppen bestand. Sie hatten sich nun in einer Organisation namens AAO (Action Analysis Organization) zusammengeschlossen – die auf Reichs Grundlage entwickelte Individualtherapie hieß Aktionsanalyse.

In diesem Jahr wechselte ich auch zu einer der deutschen Gruppen. Alle Gruppen verfügten über gemeinsames Eigentum, das aufgrund ihrer Größe zentral von einigen wenigen Finanzexperten verwaltet wurde. Leider stellte sich später heraus, dass diese Experten nicht über so viel Fachwissen verfügten, wie sie behauptet hatten. 1977 zählten insgesamt etwa 500 Menschen zu solchen Gruppen, mit jeweils etwa 30 Personen inklusive Kindern, verteilt auf Österreich, die Schweiz, Westdeutschland, Frankreich und Norwegen.

Etwa 30 % der Mitglieder stammten aus der Arbeiterklasse, der Rest eher aus der Mittelschicht. Die Mehrheit der Mitglieder waren Deutsche, was die Organisation in eine germanische Richtung beeinflusste, worauf ich noch zurückkommen werde. Nun stellt sich die Frage, welche Motive die einzelnen Mitglieder für die Entscheidung hatten, in einer solchen Gemeinschaft zu leben. Meines Wissens gibt es dazu keine empirischen Studien, aber ich schätze, dass die Mehrheit mit ihrem bisherigen Leben unzufrieden war. Viele hatten auch psychische Anpassungsschwierigkeiten. Andere, die sich ansonsten gut in der Gesellschaft zurechtfanden, waren an persönlicher Weiterentwicklung und einem Leben mit besserer Befriedigung verschiedener Bedürfnisse interessiert. Zudem waren die meisten zwischen 20 und 30 Jahre alt.

In der folgenden Beschreibung, Analyse und Diskussion der AAO werde ich sie in drei wesentliche Punkte unterteilen: 1. die Wirtschaft, 2. die Therapie und 3. die freie Sexualität. Zusammen mit der Beschreibung werde ich meine persönlichen Wahrnehmungen und subjektiven Einschätzungen einbringen, da diese sich nur schwer von meiner Analyse trennen lassen. Meiner Meinung nach ist dies überhaupt nicht möglich, da ich noch kein perfekter Mensch bin, d. h. ich besitze noch unbewusste Inhalte, die ich auf verschiedene Phänomene projiziere, die daher nicht „objektiv“ beschrieben werden können.

Die ökonomische Struktur in der AAO


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